Ein Perspektivwechsel auf Rädern
Rollstuhltraining mit Romy und Charly.
Kürzlich haben wir etwas ganz Besonderes erlebt: ein Rollstuhltraining, das uns die Welt einmal aus einer ganz anderen Perspektive gezeigt hat.
Begleitet wurden wir von Romy von dem Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Bayern e.V., die uns fachlich angeleitet hat, und Charly, einer ehrenamtlichen Unterstützerin, die selbst im Rollstuhl sitzt und uns wertvolle Denkanstöße mitgegeben hat.
Der Anlass für das Training war ganz praktisch: In unserem Team arbeitet eine angehende Bildungsfachkraft, die dauerhaft im Rollstuhl sitzt. Wir wollten herausfinden, wie barrierefrei unser Alltag und unsere Wege tatsächlich sind – und was wir vielleicht bisher übersehen haben. Zudem wollten wir versuchen, uns zu mindestens teilweise in ihre Situation hineinversetzen.
Der Start – ein kleiner Crashkurs mit großer Wirkung
Nach einer kurzen Einführung ging es gleich los. Romy zeigte uns, wie man mit dem Rollstuhl sicher über Bordsteine fährt. Klingt einfach – ist es aber nicht. Schon beim ersten Versuch wurde vielen klar, dass Kraft, Technik und Gleichgewicht eine große Rolle spielen.
Dann begann unser Rundgang: durch die Küche, zu den Toiletten, über schwere Sicherheitstüren, in den Aufzug und schließlich hinaus ins Freie. Die Regel lautete: Den Rollstuhl nicht verlassen. Alles musste im Sitzen bewältigt werden – so realistisch wie möglich.
Alltag mit neuen Augen
Schon nach wenigen Metern kam der erste Aha-Moment:
Man hatte eine ganz andere Perspektive – parkende Autos standen direkt im Sichtfeld, man sah einfach weniger. Auch Türen, die man sonst mit einem Handgriff öffnet, wurden plötzlich zu ernsthaften Hindernissen, die waren richtig schwer aufzubekommen!
Und dann der Boden: Man merkte erst jetzt, dass der Boden schräg war, damit das Regenwasser ablief – das musste man händisch mit den Rädern ausgleichen.
Solche Kleinigkeiten, die man sonst gar nicht wahrnimmt, wurden auf einmal sehr präsent. Plötzlich spielte jeder Bordstein, jede kleine Kante, jedes Kopfsteinpflaster eine Rolle.
Zwischen Kopfsteinpflaster und Ampelstress
Beim Überqueren der Straße standen wir manchmal vor der Qual der Wahl, zum Beispiel: Sollten wir über einen hohen Bordstein fahren oder einen niedrigen mit Kopfsteinpflaster als Regenrinne, in der man hängenbleiben konnte?
Und auch die Wegeplanung war eine ganz andere:
Menschen ohne Rollstuhl nehmen einfach den schnellsten Weg – über Rasen oder Schotter. Im Rollstuhl musste man überlegen: Wo komme ich durch? Wo ist der Boden halbwegs eben?
Am Spielplatz wurde es dann richtig spannend. Der Sand, die unebenen Wege und der fehlende feste Untergrund machten jede Bewegung zur Herausforderung. Trotzdem blieb der Spaß nicht aus – mit viel Humor und gegenseitiger Hilfe wurde ausprobiert, gelacht und gestaunt.
An der Ampel wurde es dann wieder ernst:
Bei der normalen Schaltung haben wir’s nur bis zwei Drittel über die Straße geschafft, bevor es rot wurde. Ein weiteres Beispiel dafür, wie viele alltägliche Situationen einfach nicht mitgedacht werden, wenn es um Barrierefreiheit geht.
Mehr als nur ein Training
In der Mensa wartete der letzte Test. Tablett auf den Schoß, Stühle wegräumen, Platz finden – alles machbar, aber eben nicht gerade einfach, wenn man im Rollstuhl sitzt.
Am Ende des Tages waren sich alle einig: Das Training war mehr als nur eine Übung – es war eine echte Erfahrung.
Während des Trainings haben wir einige wichtige Erkenntnisse gesammelt:
Marvin Voit: „Es ist okay, im Rollstuhl zu sitzen – solange man jederzeit aufstehen könnte.“
Christin Michaleck: „Man versteht besser, wie Menschen im Rollstuhl Situationen erleben.“
Charly: „Der Rollstuhl ist ein Teil des Körpers. Wenn jemand ihn anfasst, ist das, als würde man den Körper berühren.“
Ines Wolf: „Der Blickkontakt zu stehenden Menschen ist ganz anders – man sieht buchstäblich die Welt aus einer anderen Höhe.“
Diese Sätze bleiben hängen. Sie zeigen, dass Barrierefreiheit nicht nur mit Rampen und Aufzügen zu tun hat, sondern vor allem mit Verständnis, Rücksicht und Respekt.
Unser Fazit
Am Ende des Tages waren die Arme müde – aber die Köpfe voller neuer Gedanken.
Wir haben gelernt, dass Barrieren oft dort anfangen, wo die Perspektive endet, und dass jeder kleine Schritt in Richtung Inklusion zählt.
Dieses Training hat uns bewegt – körperlich, emotional und menschlich.
Und wir nehmen etwas sehr Wichtiges mit: Barrierefreiheit beginnt im Kopf – und sie betrifft uns alle.
Text: Pia Nettekoven

